„Völlig unvorbereitet und scheinbar aus dem Nichts traf mich mein psychischer Zusammenbruch und das ausgerechnet kurz vor dem Wochenende: Ich war damals beruflich und familiär zwar ziemlich gefordert, fühlte mich aber stark und den Anforderungen gewachsen. Als ich am Morgen meinen Sohn aufwecken wollte, damit er sich für die Schule fertigmachen konnte, riss der Faden. Aus! Von einem Moment auf den anderen schwammen mir die Felle davon. Ich stand mit den Armen rückwärts rudernd am Abgrund. Was jetzt? Werde ich verrückt? hämmerte es unaufhörlich in meinem Kopf!“

Eine akute psychische Krise ist sehr oft der Höhepunkt eines langen Leidenswegs ohne entsprechende Versorgung, die im schlimmsten Fall zum Suizid führt. Meist spielen Vorurteile und Tabus in der Bevölkerungen gegenüber psychischen Erkrankungen eine große Rolle, warum Hilfsangebote nicht in Anspruch genommen werden. Auf dem Land kommt dieser Umstand besonders zum Tragen. Medienberichte gelten als Brandbeschleuniger für Stigmatisierung und Tabuisierung. Fehlende Krankheitseinsicht und die Angst, für verrückt erklärt zu werden, führen dazu, dass Betroffene so lange keine Hilfsangebote annehmen möchten, bis an einem stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik kein Weg mehr vorbeiführt. Die Erfahrung zeigt, dass es dann sehr lange dauern kann bis Betroffene im Leben wieder Fuß fassen können. 

Psychische Erkrankungen im Vormarsch
Die Statistik besagt, dass 25 Prozent der österreichischen Bevölkerung im Laufe des Lebens an einer psychischen Erkrankung leiden. Die Ergebnisse einer Ist-Analyse der Österreichische Sozialversicherung aus dem Jahr 2022 zeigt, dass 900.000 Österreicher und Österreicherinnen innerhalb eines Jahres das Gesundheitssystem wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch genommen haben. Dies wurde aus Medikamenten- und Krankenstandsdaten, stationären Aufenthalten, ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen erhoben. Dies wurde aus Medikamenten- und Krankenstandsdaten, stationären Aufenthalten, ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen erhoben. Für die Versorgung dieser PatientInnen wurden ohne Spitalskosten bis zu 560 Millionen Euro aufgewendet. Dazu kommen noch die Kosten für Krankenhäuser, Rehabilitation und Frühpensionierungen auf Grund psychischer Erkrankungen. Die Zahl der Betroffenen ist innerhalb von drei Jahren um rund 12 Prozent gestiegen. Die Analyse ergab, dass die medizinischen Versorgungsangebote grundsätzlich vorhanden sind, aber teilweise qualitative und quantitative Defizite aufweisen. Der Kampf der PsychotherapeutInnen-Verbände und von uns SelbstvertreterInnen für Psychotherapie auf Krankenschein für alle, die diese Unterstützung benötigen, dauert seit Jahren an. Ein Ende ist noch nicht in Sicht.

Politische Versäumnisse fördern seelisches Leid
Wir leben in einer sich rasant verändernden Welt mit zunehmenden Krisen, die es uns schwer machen, seelisch gesund zu bleiben. In vielen Bereichen, die ein gelingendes Leben in Gesundheit sicherstellen würden, besteht Handlungsbedarf. Die Folgen politischer Versäumnisse sind Ängste und finanzielle Sorgen, Zukunftspessimismus und Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung – alles zusammen ein perfekter Nährboden für seelisches Leiden.

Wissen und darüber reden hilft!
Ein stationärer Aufenthalt ist für Betroffene nicht nur ein traumatisches Erlebnis, dass es durch entsprechende Interventionen zu verhindern gilt, sondern auch gegenüber anderen professionellen Hilfeleistungen jene Behandlungsform, die dem Gesundheitssystem am teuersten kommt. Die Fachärztin einer psychiatrischen Abteilung in Graz wies erst kürzlich darauf hin, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen auf ihrer Station landen, die mit ambulanten und niederschwelligen Angeboten besser versorgt wären. Das gehe wegen der Bettenknappheit zulasten jener Menschen, für die ein stationärer Aufenthalt notwendig wäre. 

Durch den Anstieg von psychischen Erkrankungen wird die flächendeckende psychosoziale Gesundheitsversorgung insgesamt zur Herausforderung. Der Ausbau des professionellen Angebots in stationären und ambulanten Einrichtungen hinkt diesem Anstieg hinterher. Vor allem im Kinder- und Jugendbereich und in der psychosozialen Versorgung der wachsenden Gruppe älterer Menschen bestehen große Lücken für Hilfsangebote. Der fehlende Nachwuchs an ProfessionistInnen verstärkt diese Entwicklung zusehends. Für all das trägt eine Politik die Verantwortung, die diese Entwicklung jahrzehntelang sehenden Auges zugelassen hat. Spätestens Ende der 1970er Jahre, als offensichtlich wurde, dass die starken Geburtenraten der 1960er Jahre im Sinken begriffen waren, hätten langfristig wirksame Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um die heutigen, vielfältigen Problemfelder abzufedern.

Was können wir tun?
Zur Entlastung des psychosozialen Versorgungssystems müsste in die Gesundheitskompetenz der österreichischen Bevölkerung, in Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie breitflächig angelegte niederschwellige und kostenfreie Angebote für Menschen mit psychischen Problemen investiert werden. Eine Neuorientierung des Gesundheitssystems in Richtung Ursachen- statt Symptombekämpfung könnte finanzielle Mittel frei machen, um in nachhaltig wirksame Maßnahmen zu investieren.

„Gesundheitskompetenz“ bedeutet, dass Menschen über das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten verfügen, um relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und im Alltag anzuwenden. Diese Kompetenz könnte durch (frühzeitige) Bildung erreicht werden, denn alles zusammen spielt bei der Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung eine wichtige Rolle. Mit der HSL-EU Studie (Europäischen Health Literacy Survey HLS-EU: 2009-2012) erfolgte erstmalig eine Erhebung der Gesundheitskompetenz in insgesamt acht europäischen Ländern.  Österreich liegt diesbezüglich nur an sechster Stelle vor Spanien und Bulgarien. 

Best Practice Bespiel „Achterbahn Steiermark“
Angesichts der angesprochenen Problemfelder gewinnt die Selbsthilfe an Bedeutung und wird von FachexpertInnen zunehmend als wichtige und wirkungsvolle Säule in der psychosozialen Versorgung anerkannt. Vor allem bei einer sich anbahnenden oder bereits bestehenden Ersterkrankung können Selbsthilfeorganisationen im Sinne von „Stepped Care“ eine Brücke zur professionellen Versorgung sein und über die Akutphase einer Erkrankung hinaus zur Stabilisierung und Genesung beitragen. Häufig sind professionelle Angebote bei Betroffenen und Angehörigen nicht bekannt oder bestehen Schwellenängste, Sozialpsychiatrische Einrichtungen aufzusuchen. Durch die eigene Erfahrung und die Praxis sind ErfahrungsexpertInnen (s.g. Peers) in der Lage dorthin zu vernetzen oder zu begleiten.

Mit dem Bewusstsein, dass Selbsthilfe die professionelle Versorgung zwar nicht ersetzen aber durch Erfahrungswissen sinnvoll erweitern kann, gründete ein kleiner Kreis von Menschen, die eigene psychische Krisen bewältigt hatten (s.g. Peers) im Jahr 2006 den Verein Achterbahn Steiermark, eine Selbsthilfeorganisation und Interessenvertretung für Menschen mit psychischen Erkrankungen – ein richtungsweisender Akt von Selbstermächtigung (Empowerment).

Die Tätigkeiten von Achterbahn Steiermark beruhen auf 4 Säulen: 

·       Hilfe zur Selbsthilfe: s.g. Peers –  Menschen die gelernt haben, mit psychischer Belastung zu leben, stellen ihr Erfahrungswissen Menschen in ähnlichen Situationen zur Verfügung und unterstützen diese bei ihrer Genesung. Grundlage dafür ist der s.g. Recovery-Ansatz, der den Menschen mit seinen Stärken und Potentialen in den Mittelpunkt stellt.

·       Partizipation: Interessenvertretung psychisch belasteter Menschen durch aktives Mitgestalten bei Entscheidungen der wichtigsten sozialpsychiatrischen und politischen Institutionen mit dem Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. 

·       Trialog: Vernetzung und Kooperation mit professionellen sozialpsychiatrischen Institutionen, Selbsthilfe- und Angehörigenorganisationen 

·       Öffentlichkeitsarbeit zur Aufklärung, Entstigmatisierung und -tabuisierung von psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft und für den Schutz vor Diskriminierung.

Eine Evaluation im Jahr 2022 zeigt die hohe Akzeptanz dieser Tätigkeiten auf politischer Ebene und in Fachkreisen sowie die Wirksamkeit der genannten Maßnahmen. Betroffene fühlen sich in den Einzelgesprächen mit Peers und in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten angenommen, müssen ihre Probleme nicht verstecken, sondern können ohne Angst und wertfrei darüber sprechen und sich austauschen. 

Weil sich das Achterbahn-Team aus Menschen zusammensetzt, die selbst Erfahrungen mit psychischer Erkrankung haben, ist das Verständnis für die vielfältigen Probleme von Betroffenen, die das Angebot nutzen, besonders groß und eine Begegnung auf Augenhöhe möglich. Dabei ist es wichtig, die Menschen, die zu uns kommen, vorurteilsfrei so anzunehmen, wie sie uns im Moment begegnen und deren Wünsche und Grenzen zu achten.

Aufholbedarf in den Bundesländern
Mit Ausnahme der Steiermark und von Vorarlberg ist es in den österreichischen Bundesländern um die Selbsthilfe schlecht bestellt. Seit 2018 setzt sich die TO Vernetzungsplattform – ein Zusammenschluss aus allen relevanten Selbsthilfeorganisationen und Interessenvereinigungen deshalb dafür ein, dass Selbsthilfe als wichtige Erweiterung der psychosozialen Versorgung anerkannt und von öffentlicher Hand finanziell gefördert wird. Dazu wurde ein Papier mit Zentralen Anliegen herausgeben. Aus dieser Plattform ist IDEE Austria entstanden. Die Interessenvereinigung der ErfahrungsexpertInnen für psychische Gesundheit bündelt die zentralen Anliegen und Aktivitäten der Interessenvertretungen und Selbsthilfeorganisationen in Österreich. Derzeit setzt sich IDEE Austria unter anderem für die InImplementierung der Peer-Arbeit und die Verankerung dieses neuen Berufsbildes in das Sozialbetreuungsberufegesetz der Bundesländer sowie für eine österreichweit einheitliche Peer-Ausbildung ein. Peer-ArbeiterInnen sind Menschen, die eigene psychische Krisen bewältigen konnten und eine einschlägige Ausbildung absolviert haben.

Eine Ausbildung zum/r Peer-ArbeiterIn ist in Österreich die Voraussetzung für eine Anstellung in psychosozialen Einrichtungen. In der Steiermark sind wir von Achterbahn Steiermark gerade dabei, die Implementierung der Peerarbeit in die psychosoziale Versorgung der Steiermark zu erreichen. Dafür haben wir gemeinsam mit den Vorsitzenden der psychosozialen Dienste Steiermark ein gemeinsames Konzept entwickelt, das im Rahmen von Vorträgen vorgestellt wird. Wenn wir alle – ProfessionistInnen, Angehörige und Betroffene – an einem Strang ziehen und uns nicht als konkurrierende Organisationen sehen – kann es gelingen, die psychosoziale Versorgung bedarfsgerecht auszubauen, mit dem Ziel, dass Menschen möglichst lange gesund bleiben oder mit psychischen Belastungen und Erkrankungen bestmöglich leben und nachhaltig genesen können (Stichwort: Recovery).

Der Artikel wurde in der Zeitschrift „Kontakt“ 2/2024 mit dem Titel „Hilfe in psychischen Krisen“ erstmalig veröffentlicht.

© Achterbahn Steiermark

Michaela Wambacher ist gelernte Architektin und Dipl. Coach. Sie hat eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und Psychiatrieaufenthalten. 2006 gründete sie als Erfahrungsexpertin (Peer) gemeinsam mit Kurt Senekovic den Verein Achterbahn Steiermark, den sie seit 2021 leitet. Bis 06/2024 war sie stellvertretende Vorsitzende bei IDEE Austria. Außerdem ist sie in der GFSG Gesellschaft für seelische Gesundheit im Vorstand und Aufsichtsrat als Betroffenenvertreterin aktiv.